Begehbare Zeit
670.000 m2 werden zum Museum – ohne Bau
Wie können große historische Flächen, welche über die Jahre abgebaut und umgebaut wurden, mit überschaubarem Aufwand greifbar gemacht werden? Wie können Bilder, die entwurzelt wurden und aus der Zeit gefallen sind, wieder verortet werden? Wir haben eine Augmented Reality Anwendung entwickelt, die diese gewichtige Aufgabe mit Bravour löst.
Unsichtbares sichtbar machen
Aufgrund von Abriss und Umnutzung können sich Besuchende heutzutage kein genaues Bild mehr davon machen, wie die Gedenkstätte Sachsenhausen zur NS-Zeit ausgesehen hat. Sie sehen sich mit der unkommentierten Leere des Geländes konfrontiert.
Unser Prototyp ZEITSCHICHTEN ermächtigt sie, die Vergangenheit zu entziffern, Verborgenes zu entbergen. Mit Hilfe der Augmented Reality Applikation können Teile des Geländes durch Zeitportale betreten und die Bebauung der jeweiligen historischen Zeitschicht erkundet werden. Eine Stimme aus dem Off erläutert, zu welchem Zweck und aufgrund welcher geschichtlicher Zwänge die Topographie umgestaltet wurde.
Raum-Zeit-Maschine
Besonders die Zeitdokumente erfahren als zusätzliche Ebene durch die Art der Einbindung eine enorme Aufwertung. Während sie sonst losgelöst von Raum und Zeit präsentiert werden, siedeln sie sich in ZEITSCHICHTEN in und um die Gebäude-Skizzen an – genau an den Orten, an denen sie entstanden sind.
Diese zeitliche und räumliche Rück-Verortung hilft den Betrachtern, die Zeitdokumente besser einzuordnen: Unter welchen Umständen haben Lager-Insassen die Zeichnungen angefertigt? Mit welcher kommunikativen Absicht haben die Täter Propaganda-Fotos inszeniert? Am Ort der Entstehung sind dies keine akademischen Fragen. Hier leben und atmen sie Geschichte.
Ist das jetzt ein Gadget oder ein neues Medium?
Es steckt viel Potential in unserem Prototypen. Das zeigen auch die von der Auftraggeberin SPUR.lab geführten Interviews: “73 % [der Nutzer:innen] half die virtuelle Visualisierung historischer Strukturen und Dokumente […], die Geschichte des Ortes besser zu verstehen.”* Wow.
Aber wie sähen diese Zahlen erst aus, wenn wir statt Fotos und Gebäudeskizzen auch Videos, historische Film- und Tonaufnahmen oder komplette Audioguides integriert hätten? Wie sähe ein Rundgang für Besucher aus Norwegen aus? Wie für speziell an der Beziehung zwischen Industrie und NS-Regime Interessierte?
Auch andere Orte der Erinnerung können von unserer Pionierarbeit profitieren: “Da viele der deutschen KZ-Gedenkstätten wie Dachau, Neuengamme oder Buchenwald eine ähnliche Topografie und Geschichte der Nach- und Umnutzung haben, ist eine Übertragbarkeit von ZEITSCHICHTEN hier sehr naheliegend.”* Da SPUR.lab den Code Open Source zur Verfügung stellt, ist die erste Hürde zur Weiternutzung auch schon genommen.
* Quelle: “SPUR.lab, Ein interdisziplinäres Forschungslabor”, Brandenburgische Gesellschaft für Kultur und Geschichte, 2023